Von Gott angesehen (Lukas 1,46-55)
Gottesdienst am 20.12.2015 in Brombach

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
schlüpfen wir kurz in die Kleider eines Mitmenschen, der keinerlei Vorbildung im christlichen Glauben hat. Mit Freunden ist er das erste Mal in seinem Leben auf einem Weihnachtsmarkt und bleibt staunend vor der lebensgroßen Darstellung der Weihnachtskrippe stehen. Was hat das zu bedeuten? Vater und Mutter sitzen bei einer Futterkrippe, in der ein – wahrscheinlich ihr – Baby liegt?
Da erwacht die Frau dieser Szene, die Maria genannt wird, zum Leben, erhebt sich und singt ein Lied:

Lukas 1,46-55

Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn,  und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.

Bei diesem Lied können wir drei verschiedene Perspektiven einnehmen.

Aus Sicht Marias
Der lebendige Gott, der das Volk Israel durch Jahrhunderte begleitete, der die Welt ins Leben gerufen hat und sie in seiner Hand hält, ist Maria, einer wohl ungefähr 14-jährigen jungen Frau aus Nazareth begegnet. Gott hat Maria angesehen und sie aus der Menge der Menschen herausgehoben. Sie durfte Mutter Jesu werden und wurde so die erste, für die Gott in seinem Sohn Jesus Mensch geworden ist. Sie wird immer die erste bleiben.

Bis heute nennen wir im Glaubensbekenntnis nur zwei Menschen auf dem Weg Jesu mit Namen, Maria und Pilatus. Krippe und Kreuz sind die beiden wichtigsten Eckdaten im Leben Jesu, Geburt und Tod, Kommen des Heils Gottes in eine unheile Welt und Heilung durch Vergebung am Kreuz. Und sie sind mit konkreten Menschen verbunden.  Maria ist die erste, die an Gottes Therapie für Todkranke teilnimmt.

Wie die junge Maria angesehen wurde, so werden mit ihr alle Kleinen, Unbedeutenden, Armen angesehen. Die Verhältnisse werden aus dem Blickwinkel Marias umgekehrt. Die Kleinen werden groß und die Großen klein. 

Aus Sicht der Gemeinde
Ein roter Faden spannt sich von dem Stammvater Israels, Abraham, bis zu Jesus und von ihm bis zu uns heute. Gott erbarmt sich über das Volk, das er aus freien Stücken herausgeliebt hat. Es musste keine Voraussetzungen mitbringen, im Gegenteil. Klein, immer wieder ungehorsam, gottlos, vermessen, streitsüchtig, politisch verblendet, so beschreibt es die Bibel. Dieses Volk ohne Voraussetzungen liebt Gott so, dass er es mit seinem Sohn retten will. Und nicht nur sie, sondern die ganze Welt. 

ie Gemeinde singt deshalb dieses Lied mit Maria. Der große Gott schaut uns hier an. Er hat die Armen aus dem Staub gehoben. Diese Erfahrung machte auch die Gemeinde. Sie hebt nun andere aus dem Staub und kümmert sich um sie. Die Geschichte der Kirche ist geprägt von Armenfürsorge und Krankenpflege. Bei einer Straßenumfrage, was Leute heute von der Kirche erwarten, antworteten mir Passanten: „Altenheime und Krankenhäuser führen, Kindergärten, Diakoniestationen“. Man kann das als oberflächlich abtun. Doch dahinter steht eine zutiefst christliche Erfahrung. Jesus ist zu den Schwachen gekommen, für sie sollten deshalb auch Christen da sein.

Die Kraft bekommen wir von Gott. Er sieht uns an wie damals Maria, er lässt uns durch Jesus wissen, dass er uns beruft, mit Kraft ausstattet und befähigt, sein Licht in die Welt zu tragen. Er gibt uns den Blick, wer von uns aufgehoben werden sollte, wen wir sättigen sollten.

Aus ganz persönlicher Sicht
Marias Lied, das sie ja nicht an der Krippe, sondern gemäß dem Lukasevangelium zeitlich früher sang, kurz nachdem der Engel ihr sagte, dass sie Gottes Sohn bekommen würde, ist ein Seelsorgelied. Wer gerade verlassen wurde, wer sich fühlt, als stehe er gerade am Rand einer Klippe, bereit zum Sprung, wer keine Hoffnung mehr hat, dass irgendetwas ihn retten könnte, wer sich um das tägliche Brot sorgen muss, der hört aus diesem Lied heraus: Gott verspricht dir, dass er dich mit den Augen der Liebe ansieht. Jesus ist für dich geboren worden. Jesus verspricht dir, dass er alle Tage bei dir bleiben wird. 

Doch dieses Lied ist auch ein Stopp-Zeichen. In der Gute-Nachricht-Übersetzung heißt es: „Er fegt die Stolzen weg samt ihren Plänen. Jetzt stürzt er die Mächtigen vom Thron.“ (Lukas 1,51-52) Gehöre ich wirklich zu den Armen, oder doch eher zu den Stolzen? Ich habe doch viele eigene Pläne und Gedanken, meine, mein Leben ganz gut selbst organisieren zu können. Lasse ich mich von Gott korrigieren? Bin ich bereit, mir von ihm das Heft aus der Hand nehmen zu lassen? Bete ich, bevor ich Entscheidungen treffe, um Hilfe, oder nur um Bestätigung meiner Wünsche? Geht es mir um mich oder um ihn, dass seine Ehre groß wird? Kann ich von meinem Erarbeiteten teilen und abgeben, oder denke ich, dass mein Geld mir gehört?

Wenn ich in einer ehrlichen Selbstbetrachtung feststelle, dass ich durchaus bei den Stolzen bin, dann scheint ein Umsturz unumgänglich. Gott wird mich vom hohen Ross stoßen, dass ich mich dort wiederfinde, wo er Arme sucht, die er aufheben kann. Doch zwischen Aufheben und Niederstürzen gibt es ein Zeitfenster. Hier ist Umkehr möglich. Sie beginnt mit der Selbsterkenntnis, dass ich trotz allem, was ich mir aufgebaut habe, völlig abhängig von Gott bin. Er kann meinem Leben von jetzt auf nachher eine Wende geben. So sind meine Errungenschaften, mein Status, mein Geld, mein Haus und meine Verdienstorden Grund, Gott zu danken. Sie mahnen mich aber auch, dass Gott mir damit eine Verpflichtung gegeben hat. Alles, was ich habe, kann ich teilen. Mein warmes Haus kann Zuflucht für Frierende an Leib und Seele sein. Mein Auto kann Menschen befördern, die sonst zuhause bleiben müssten. Mein Verdienstorden kann Türen öffnen, um mich mit Nachdruck für andere einzusetzen, die keine Stimme haben. 

Was ich festhalten will

  1. Meine Seele, mein Herz lobt Gott. Das ist mehr, als zu sagen: „Ich lobe Gott“. Mein ganzes Sein wird in eine Bewegung des Lobes hineingenommen. Loben ist kein Willensakt mehr, sondern direkte Antwort auf eine Gotteserfahrung. Es gibt Situationen im Leben, wo dieses Mitreißen leichter geschehen kann, bei der Geburt eines Kindes, bei einer krassen Gebetserhörung, bei Heilung, wenn ein Problem sich löst, wenn wir Bewahrung erleben. Aber zum Loben mitgenommen werden wir auch in Zeiten der Not, wo wir uns getragen wissen und spüren, wie Jesu Nähe uns durchträgt. Wo er uns seine Vergebung wie einen Rettungsring zuwirft.
  2. Maria beherrscht die Kunst, Gottes Blick anzunehmen, ihn geschehen zu lassen. Ich möchte lernen, mich Gottes Wirken zu überlassen und ihm zu vertrauen, wenn er mir ins Steuer fasst. Meistens ist mein Stundenplan so eng getaktet, dass kein Freiraum für Gottes Wirken ist. Und wenn er eingreift, empfinde ich es nicht als Gebetserhörung, sondern als Störung. Ich möchte in meinem Morgengebet den Satz aufnehmen: „Herr, ich warte auf dich“. Und beim Tagesrückblick entdecken, wo er seine Fußspuren hinterlassen hat. Diese Erfahrungen sollen nicht gleich wieder verpuffen.
  3. Die Hochmütigen und Stolzen sind nicht nur die anderen. Das Lied ruckelt an meinem Sesselchen und stößt es vom Sockel. Ich habe mein Leben genauso geschenkt bekommen wie andere, die auf der Schattenseite leben. Was mache ich daraus?
  4. Den vierten Advent sollte Freude und Vorfreude prägen. Kinder machen es uns ja vor. Sie sind ganz hibbelig vor Weihnachten, können es kaum erwarten, bis es soweit ist. Worauf freuen wir uns? Nicht unbedingt auf die Geschenke, die wir uns vielleicht auch selbst kaufen oder basteln könnten. Aber auf Jesus, der in unser Leben kommen will, der uns Licht und Lebensquelle sein will, der uns zusagt, dass wir geborgen sind und nie mehr allein. Wenn wir uns darauf freuen, wird das schon vorher Auswirkungen wie bei den Kindern haben. Wir werden aufräumen in unserer Seele, die Türen öffnen und aufmerksam schauen. Jesus kommt, durchaus auch anders als erwartet wie damals in Bethlehem.
Das Lied Marias erzählt von einem Gott, der sich in die Tiefe menschlicher Existenz begeben hat, um uns nahe zu sein und zu retten. Der Mitmensch auf dem Weihnachtsmarkt hörte das heute zum ersten Mal. Vielleicht ist er nachdenklich geworden und hat Sehnsucht, diesem Jesus näher zu kommen.
Cornelia Trick


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