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Liebe Gemeinde,
Eine berührende Episode aus Jesu Leben handelt von Durst und vom Durstlöschen. Sie ist auch für uns aufschlussreich, deren Wasserhähne ja immer laufen. Stellen wir uns vor, wir lebten in einem kleinen Nest mit Namen Sychar, mitten in Samarien zwischen Galiläa im Norden und Juda mit der Hauptstadt Jerusalem im Süden. In unserem Dorf glauben wir an den Gott Israels, fühlen uns mit ganz Israel verbunden, aber haben uns geschichtlich anders entwickelt. Wir sehen nicht Jerusalem als Mittelpunkt unserer Gottesverehrung und kennen die Prophetenbücher der Bibel nicht. Für uns ist die Mose-Geschichte prägend. Dadurch pflegen wir eine gewisse Distanz zu den Juden aus dem Norden und Süden des Landes. Sie erkennen uns nicht als vollwertig an und wir sie nicht. In unserem Dorf lebt eine merkwürdige Frau. Wir wollen alle möglichst wenig mit ihr zu tun haben. Sie ist inzwischen mit dem 6.Mann zusammen. Was mit den anderen fünf geschehen ist, darüber kursieren Gerüchte. Jedenfalls versuchen wir, Gespräche mit ihr zu vermeiden, und manche von uns streifen sie mit einem verachtenden Blick. Es ist Mittagszeit im Dorf, die Sonne brennt vom Himmel. Wer kann, hat sich in den Schatten zurückgezogen. Längst herrscht kein großer Andrang mehr am Dorfbrunnen. Doch diese Frau steht dort und schöpft Wasser. Warum? Meidet sie auch die Kontakte? War es Gott selbst, der ihr den Impuls gab, genau jetzt zum Brunnen zu gehen? Ein offensichtlicher Jude, erkennbar an seiner Kleidung, kommt dazu. Der Mann spricht sie an, was äußerst ungewöhnlich ist, ein Jude, eine Frau und Samaritanerin. Er bittet um etwas zu trinken. Daraus entwickelt sich ein Gespräch. Der Jude, es ist Jesus, wollte doch eigentlich etwas zu trinken von der Frau, doch nun scheint sich die Situation umzukehren. Jesus bietet der Frau etwas zu trinken an, lebendiges Wasser. Johannes 4,13-14
Das Thema der Frau wird schnell offensichtlich. Hinter ihren Männergeschichten steckt Durst. Durst nach Liebe, dass sie jemand vorbehaltlos annimmt, dass sie bei diesem Mann zuhause sein kann ohne Bedingungen. Vielleicht steckt auch Durst nach Anerkennung dahinter. „Du bist die Einzige für mich!“, wie wohl tun ihr solche Sätze. Mag sein, dass es sie auch nach Sicherheit dürstet. Materiell abgesichert zu sein, ausgesorgt zu haben, das ist durchaus lebensnotwendig. Aber hat sie all das von den sechs Männern bekommen? Jesus stellt offenbar fest, dass da noch mehr Durst sein muss, Durst nach gesellschaftlicher Akzeptanz, eine von den anderen im Dorf zu sein, morgens mit den anderen Frauen am Brunnen die Morgenlage zu besprechen, Freunde zu haben, die sie mögen. Jesus bietet der Frau an, ihren Durst zu stillen. Bei Gott kann sie zuhause sein, von ihm ist sie anerkannt, aufgefangen. Sie muss nicht mehr alles von dem einen Mann erwarten, sondern hat auch ohne Mann ihren Platz in der Welt. Und Jesus gibt ihr nicht nur einen Becher zu trinken, also eine endliche Portion, sondern öffnet eine Quelle lebendigen Wassers in ihr. Jederzeit hat sie Zugriff auf Gottes Liebe, als wenn der Keller immer mit Sprudelflaschen gefüllt wäre. Ja, sie hat so viele Flaschen im Keller, dass sie davon abgeben muss, sonst würde ihr Keller überflutet. Die Frau öffnet sich
im Gespräch für Jesus. Die Wärme des Heiligen Geistes durchströmt
sie. Sie spürt die Liebe Gottes und rennt los ins Dorf zu denen, die
sie bis jetzt gemieden hatten. Sie erzählt ihnen von Jesus. Wie ein
Wunder erscheint ihre Reaktion. Die Leute hören der Frau zu. Sie erkennen,
dass sie selbst Durst haben und den Durstlöscher brauchen. Sie laufen
zu Jesus und kommen zum Glauben an ihn.
Ich fragte in einer Gruppe von Jugendlichen, wonach sie Durst hätten. Als erste Antwort kam: „Ich möchte wieder verreisen!“ Offensichtlich fehlt das Reisen nicht nur älteren Menschen, sondern ist ein Durst, den im Moment viele verspüren. Schaue ich Jesus an, dann war er durchaus reisefreudig, allerdings nachhaltig zu Fuß unterwegs. Er wanderte drei Jahre durch die Gegend, lebte von neuen Begegnungen und überraschenden Orten. Wäre er immer in Nazareth geblieben, hätte er die Frau am Brunnen in Sychar nicht getroffen. Doch welchen Durst würde er hinter unserer Sehnsucht nach der Reise aufdecken? Als ich diese Woche in einem langen Flur auf meinen Termin wartete, fiel mein Blick auf ein großes Foto vom Strand mit einsamem Strandkorb und dem Meer im Hintergrund. Geradezu körperlich spürte ich das Bedürfnis nach Freiheit. Wenn ich jetzt dort wäre, würde kein Terminkalender mich auf Trab halten, ich hätte keine To-do-Listen zu bearbeiten, niemand würde mich hetzen, und meine Seele könnte ich baumeln lassen. Und ich nahm auch ein kindliches Bedürfnis nach Geborgenheit wahr: Ich muss mich um nichts kümmern, kann einfach in den Tag leben, es wird für mich gesorgt. Wie kann Jesus diesen Durst stillen? Denn auch abgesehen von Corona-Beschränkungen kann ja nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung regelmäßig in den Urlaub fahren, das Grundbedürfnis nach Freiheit und Geborgenheit haben die anderen aber auch.
„Wie eine Hirschkuh im trockenen Bachtal nach frischen Wasserströmen schreit – so sehne ich mich, Gott, nach dir!“ (Psalm 42,2) Cornelia
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